Europawahl 2024 - Vorurteile und Klischees im FFH-Check
FFH-Check vor der Europawahl - Was ist dran an den EU-Vorurteilen?
Unsinnige Verbote und mitentscheiden dürfen wir ja sowieso nicht: Es gibt viele Vorurteile gegenüber der Europäischen Union. Was ist dran? Das klären wir vor der Europawahl am 09. Juni.
Viele Vorurteile, Missverständnisse und Fehlannahmen beeinflussen das Vertrauen und die Zustimmung zur EU. Doch was ist wirklich dran an diesen Behauptungen? Wir nehmen fünf der häufigsten Vorurteile gegenüber der EU unter die Lupe und prüfen ihre Faktenlage.
EU-Vorurteile im Check
Wird in Brüssel ohne uns entschieden? Sitzen im Europäische Parlament nur „alte weiße Männer“, die dazu nur unsinnige Vorschriften erlassen? Haben Lobbyisten zu viel Macht? Und zahlt Deutschland nur für die EU, ohne zu profitieren? Wir checken das und zeigen mit anschaulichen Beispielen, welche dieser Vorurteile berechtigt sind und welche nicht.
Vorurteil 1: Es wird ohne uns entschieden
Die EU-Bürger wählen ihre Abgeordneten für das europäische Parlament. Das beschließt am Ende auch alle Gesetze. Vorbereitet werden Gesetze durch die Europäische Kommission. Die Kommission stößt sie selbstständig an, bekommt aber auch Aufträge durch den Europäischen Rat und dem Ministerrat. Das sind die gewählten Staats- und Regierungschefs und Fach-Minister der einzelnen Mitgliedstaaten. Damit ist jedes Handeln in Brüssel im Grunde demokratisch legitimiert.
Nicht ganz perfekt, aber auf dem Weg dorthin
Allerdings: Die europäische Demokratie könnte noch perfekter sein. Sven Simon ist hessischer CDU-Abgeordneter in Brüssel. Er ist auch Professor für Staatsrecht und Experte für Europarecht. Er bemängelt, dem Parlament fehle noch das Initiativrecht, also die Möglichkeit Gesetze selbst auf den Weg zu bringen.
Kontrollrechte noch nocht weitreichend genug
Auch seien die Kontrollrechte des Parlaments bislang noch nicht so weitreichend, dass die Abgeordneten Mitglieder der Kommission im Parlament zur Rede stellen können, so wie es im Bundestag die Abgeordneten mit den Ministern tun.
Verbesserungsbedarf auch bei der Kommission
Die Kommission ist der Motor und eine Art Regierung. Jeder Mitgliedsstaat ist hier mit einem Kommissar vertreten. Die Leitlinien der Politik bestimmt der Kommissionspräsident – aktuell ist das Ursula von der Leyen (CDU).
Sollte das Volk den EU-Präsidenten wählen?
Vorgeschlagen wird sie vom Europäischen Rat und gewählt wird sie durch die Abgeordneten im Parlament. Viele Europapolitiker, darunter Sven Simon, sagen, wäre der Präsident direkt vom Volk gewählt, wäre die EU näher an den Bürgern und die EU noch ein Stück demokratischer.
Vorurteil 2: Nur "alte weiße Männer" im Parlament
Das war mal so, mittlerweile hat sich das Parlament deutlich verjüngt. Das Durchschnittsalter beträgt aktuell 49,5 Jahre. Das ist in etwa auch der Altersdurchschnitt der Abgeordneten im hessischen Landtag. Nur der Bundestag ist „jünger“, der Altersdurchschnitt hier liegt bei 46,6 Prozent.
- Der älteste hessische Abgeordnete in der EU ist Udo Bullmann. Er wird jetzt 68 Jahre alt. Der SPD-Mann sitzt seit 25 Jahren im Parlament. Er wird vermutlich in Brüssel eine weitere Legislaturperiode verbringen.
- Der jüngste hessische EU-Abgeordnete ist Engin Eroglu von den Freien Wählern. Er ist 42 Jahre. Er sagt, das Parlament muss sich weiter verjüngen, denn Parlamente müssten den Querschnitt der Gesellschaft darstellen.
Jung und weiblich
Die jüngste Abgeordnete im EU-Parlament kommt übrigens aus Dänemark. Am Wahltag war sie 21 Jahre alt. Die Dänin Kira Peter-Hansen engagiert sich in der Socialistik Folkeparti. Die jüngste deutsche Abgeordnete heißt Delara Burkhardt. Sie ist 31 Jahre alt. Im ersten direkt gewählten Europäischen Parlament lag der Frauen-Anteil bei nur 16 Prozent, jetzt sind es immerhin 40 Prozent.
Brüssel zu weit entfernt?
Warum sind nicht noch mehr junge Frauen im Parlament? Der hessische EU-Abgeordnete Eroglu kennt einen Grund, der junge Politiker egal welchen Geschlechts davon abhält, ein Abgeordneten-Mandat in Brüssel anzustreben. Brüssel sei eben nicht heimatnah und deshalb auch nicht familienfreundlich. Wenn man in Brüssel wirkt, müsste man auf die sozialen Bezüge der Heimat weitgehend verzichten.
Vorurteil 3: Nur unsinnige Vorschriften
Die Vorschrift, wie stark Gurken gekrümmt sein dürfen - eines der berühmtesten Beispiele für angeblich unsinnige EU-Verordnungen, die unser Leben nur kompliziert machen. Die EU als Bürokratie-Monster, das alles und jedes regeln und vorschreiben will, so lautet vielfach ein Vorurteil. Was ist dran am Vorwurf der Überregulierung durch Brüssel?
Wie krumm darf die Gurke sein?
Die Gurken-Krümmungs-Verordnung, die hat es so nie gegeben. Tatsächlich hat die EU 1988 mal geregelt, dass Gurken, die in der EU als "Handelsklasse Extra" verkauft werden sollen, einen bestimmten Krümmungsgrad nicht überschreiten dürfen. Zwingend vorgeschrieben war das also nicht - und die Regelung ist 2009 wieder abgeschafft worden.
Manche Regel gibt es nicht mehr
Die Traktorsitz-Verordnung, eine andere gerne zitierte EU-Posse, die angeblich regelt, wie man auf einem Traktor sitzen darf und wie eben nicht. Ja, es gab tatsächlich mal eine Regelung, wie man richtig und gefahrlos auf dem Traktor sitzt, sie ist aber schon seit mehr als zehn Jahren außer Kraft.
Wie steht es mit Dirndln im Biergarten?
Bei anderen Verordnungen und Regeln, die manchmal zunächst idiotisch erscheinen, kann man bei genauerem Hinschauen oft entdecken, dass sie so unsinnig gar nicht sind. Als Beispiel: Aus der Pflicht für Arbeitgeber, ihre Mitarbeiter vor starker UV-Strahlung zu schützen, wurde gerne mal ein angebliches "Dirndl-Dekolletè-Verbot im Biergarten" gemacht.
Verbotene Dudelsäcke oder doch nur Lärmschutz?
Auch ein angebliches "Dudelsack-Verbot", das durchs Netz geisterte, entpuppte sich als Lärmschutz-Verordnung, die am Ende eben auch für Orchester-Musiker bei sehr lauten Instrumenten Ohrstöpsel nötig macht.
EU-Regeln, die uns im Alltag helfen
Andere EU-Regelungen helfen uns allen im Alltag. Etwa beim Ladekabel. Dank EU-weiter Regeln wird das Chaos mit unterschiedlichen Ladekabeln bis Ende 2024 beendet. Es wird USB-C als neuer Standard für Smartphones, Digitalkameras, Kopfhörer, Tablets, tragbare Videospielekonsolen, Tastaturen, E-Reader, Navigationsgeräte, Headsets und tragbare Lautsprecher vorgeschrieben. Ab 2026 gilt das dann auch für Notebooks.
Hessische Wirtschaft braucht die EU-Regeln
Bei aller Kritik an Überregulierung, wir haben jemanden gefunden, der die EU-Verordnungen in aller Regel gut und wichtig findet: die hessische Wirtschaft. Alle Unternehmen, die in die EU-Länder exportieren, seien darauf angewiesen, dass in allen Ländern für Produkte und Dienstleistungen die gleichen Normen und Regeln gelten. Nur so funktioniere der gemeinsam Markt. Das hat uns Clemens Christmann von der Vereinigung hessischer Unternehmerverbände (VhU) gesagt.
Auch Unternehmern ist es teils zu viel
Richtig ist aber auch, dass selbst den Wirtschafts-Vertretern in Hessen manche Regelungswut der EU zu weit geht. Etwa, wenn zu sehr in unternehmerisches Handeln eingegriffen wird. Da nennt die VhU zum Beispiel Regeln aus dem"Green Deal" wie das Verbrennerverbot oder das Lieferkettengesetz.
Unternehmerverband: Nicht zu viel regulieren
Was vielleicht Umweltverbände begrüßen, stößt bei den Unternehmen auf Kritik. Die Regelungswut der EU - ein Thema mit Licht und Schatten? Das haben wir Clemens Christmann vom Unternehmeverband gefragt. Seine Antwort: "Die EU ist der große Regelsetzer, der Schiedsrichter wie im Fußball, der dafür sorgt, dass das Spiel funktioniert, aber der Schiedsrichter darf nicht gegen den Ball treten, er darf nicht zu viel regulieren." Die EU sei dafür da, die Wettbewerbsfähigkeit in den Vordergrund zu stellen, damit die Arbeitsplätze sicherer werden, so Christmann weiter.
Vorurteil 4: Lobbyisten haben zu viel Macht
Laut der NGO "Lobby Control" nehmen in Brüssel schätzungsweise 25.000 Lobbyisten mit einem Jahresbudget von 1,5 Milliarden Euro Einfluss auf die EU-Institutionen. Etwa 70 Prozent von ihnen arbeiten für Unternehmen und Wirtschaftsverbände.
Wird die EU zur "Lobbykratie"?
Die Lobby-Vertreter genießen privilegierte Zugänge zu den Kommissaren. Und sie überhäufen die Abgeordneten mit ihren Änderungsanträgen für Gesetzesvorlagen. "Lobby Control" mahnt: "Die europäische Demokratie läuft Gefahr, zu einer wirtschaftsdominierten Lobbykratie ausgehöhlt zu werden."
Werden Unternehmen mehr gehört?
Unternehmen und Verbände hätten immens viel Geld und könnten so Einfluss auf viele EU-Vorhaben nehmen. Das münde oft in Regeln, die nicht unbedingt dem Gemeinwohl, sondern Unternehmens-Interessen dienten. Die gesamte Thematik hat die Organisation "Lobby-Control" in ihrem Report für 2024 dargelegt.
Was sagen die Lobbyisten selbst?
Wir haben mit Ralph Beisel gesprochen. Er ist der Chef-Lobbyist der deutschen Flughäfen - also auch für den Flughafen Frankfurt - und für dessen Verband in Brüssel aktiv. Er sagt: Vor jedem Gesetz würden in der EU ja nicht nur die Wirtschaftsvertreter gehört, sondern alle, die davon betroffen sein könnten. Das sei zutiefst demokratisch.
Gespräche nicht in Hinterzimmern
Lobbyismus sei auch keineswegs ein intransparenter Vorgang, sagt Flughafen-Cheflobbyist Beisel im FFH-Gespräch. Die Vorstellung, dass in Brüsseler Hinterzimmern oder gar bei teuren Essenseinladungen in Nobel-Restaurants die Parlamentarier beeinflusst würden, die sei komplett falsch.
Transparenz bei Gespächen mit EU-Vertretern
Alle Gespräche mit EU-Vertretern würden öffentlich bekanntgemacht. Es könne jeder nachvollziehen, wer mit wem über welches Thema spreche.
Vorurteil 5: Deutschland zahlt nur ein
Fakt ist: Deutschland ist als größte Wirtschaftsmacht auch der größte Geldgeber der EU. Zwar macht die EU-Kommission dazu seit 2020 keine Angaben mehr, laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) hat sich daran aber nichts geändert. 2022 waren es laut einem Bericht von September 2023 rund 19,7 Milliarden Euro.
Deutschland ist größter Nettozahler
"Deutschland ist damit weiterhin der größte Nettozahler, vor Frankreich, das im vergangenen Jahr 10,0 Milliarden Euro mehr abführte als an Rückflüssen zu verzeichnen waren", heißt es in dem Bericht. Auf Platz drei steht Italien mit einem Nettobeitrag von 3,9 Milliarden Euro, größter Nettoempfänger war Polen mit 11,9 Milliarden Euro.
Milliarden-Exporte in EU
Die Zahlen von Einnahmen und Ausgaben alleine sagen aber nicht unbedingt etwas über den Nutzen aus. So profitiert die deutsche Wirtschaft etwa vom EU-Binnenmarkt. In die Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurden im März 2024 laut Statistischem Bundesamt Waren im Wert von 73,3 Milliarden Euro exportiert, in alle übrigen Staaten wurden insgesamt Waren im Wert von 60,9 Milliarden Euro exportiert.
Weitere Vorteile durch die EU
Auch nicht so einfach messbare Faktoren wie Sicherheit oder das Reisen in andere Länder ohne Grenzen zählen zu den Vorteilen - ebenso das mittlerweile günstige Telefonieren im EU-Ausland.
Millionen gingen in den Werra-Meißner-Kreis
Und es fließen natürlich trotz der Netto-Milliarden auch EU-Gelder zurück nach Deutschland - etwa in den Werra-Meißner-Kreis. "Wir haben im gesamten Werra-Meißner-Kreis Mittel von über vier Millionen Euro erhalten von 2014 bis 2022", sagt Thomas Eckhardt. Er ist Bürgermeister von Sontra und Vorsitzender des Vereins für Regionalentwicklung im Kreis.
Neue Arbeitsplätze entstehen
Die Gelder gingen an Tourismus-Projekte wie Wanderwege oder Museen, aber auch in die Wirtschaftsförderung. Dadurch würden viele Arbeitsplätze geschaffen, so Eckhardt.
Mountain-Bike-Strecke wird mit EU-Geldern gebaut
Ein konkretes Beispiel sei eine neue Mountain-Bike-Strecke, die ab August in Sontra gebaut wird und noch in diesem Jahr fertig sein soll. "Das ist ein Leuchtturm-Projekt, für das wir über 280.000 Euro aus EU-Mitteln mit einer 80-prozentigen Förderung erhalten haben", so Eckhardt im FFH-Interview. "Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Deutschland nicht profitiert von einer EU", sagt Eckhardt. Man müsse unterstreichen, wo überall EU-Geld drin steckt.
Zahlreiche Projekte in Bad Soden-Salmünster mit EU-Fördermitteln umgesetzt
Auch in Bad Soden-Salmünster wurden viele Projekte durch EU-Fördermittel umgesetzt, die es sonst nicht hätte geben können. Vor allem durch das LEADER-Programm (Fördermaßnahme für die Entwicklung des ländlichen Raums) und die Dorfentwicklung konnten verschiedenste Maßnahmen angepackt werden, berichtet Bürgermeister Dominik Brasch im FFH-Interview.
Von Radwegen bis Spielplätzen
"Angefangen bei einer attraktiven Rad- und Wanderwegeinfrastruktur, touristischen Investitionen beispielsweise in neue Wohnmobilstellplätze, Abenteuerspielplätze für die Jüngsten, oder dann auch Highlights wie unsere Lern- und Erlebniswelt am Kinzig-Stausee, der Ardeas Seenwelt, wo immerhin auch 500.000 Euro LEADER-Mittel mit reingeflossen sind", berichtet Dominik Brasch.
Freibad hätte ohne EU-Unterstützung schließen müssen
Das Freibad im Bad Soden-Salmünsterer Stadtteil Mernes hätte ohne EU-Fördermittel sogar schließen müssen, berichtet Dominik Brasch im FFH-Gespräch: "Das in die Jahre gekommene Freibad war am Ende seines Lebenszyklus angekommen, wie viele Bäder deutschlandweit. Und unter anderem durch umfangreiche Mittel aus der Dorfentwicklung - insgesamt 565.000 Euro - und somit dann eben auch Mitteln aus Europa, wird das Bad derzeit in ein sehr attraktives, komplett energieautarkes und ökologisch geklärtes Naturbad umgebaut."